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Um 8:30 Uhr klingelt das Telefon in unserem Hotelzimmer. Wir schrecken auf. "Wer, verdammt
nochmal, hat diese Nummer?" fragen wir uns. Zuerst ignorieren wir das Läuten. Dann, als die Ignoranz des Läutens stärker als die unsere ist, fragt Nadège: "Soll ich dran gehen?" "Si!" "Seniora?" fragt Nadège den Anrufer. Eine ältere, gebrechliche, männliche Stimme: "Americanos... pagar...". Wir verstehen nichts, legen auf. Wir denken, er wollte um Geld bitten.
Rückblende: Gestern, Donnerstag haben wir eine Reise zu einem Ort außerhalb Limas gemacht. Zwar immer noch in der Region Lima, aber nicht eigentlich in der Stadt. "Du kannst Deine gute Kamera ruhig mitnehmen" hieß es im Vorfeld, "in Chosica ist es sicher". Dass wir auf dem Weg aber durch diverse Slums fahren müssen, hatte mir natürlich niemand gesagt. Garnicht dran gedacht, die Einwohner nehmen die Zustände, den starken Kontrast zwischen den ganz
netten Wohnvierteln in Lima und den Slums außerhalb, nicht mehr in dem Maße wahr wie wir.
Zuerst geht es mit dem Taxi von Miraflores ins Zentrum. Eine halbe Stunde kostet sieben Soles, als geschickter Verhändler, den wir mit John gücklicherweise dabei haben. Das sind grob gerechnet zwei Euro. Im Bus würde die Reise zwei Soles kosten, "der ist aber gefährlich" sagt John. Im Zentrum wartet schon das nächste Taxi auf uns. Wir verstehen den Unterschied nicht, aber dieses neue Taxi hat anscheinend einen anderen Status. Es wird uns die gut 1-1/2 Stunden entfernte Strecke nach Chosia fahren, für fünf Soles pro Person. Dabei sind natürlich wir, John und eine Bekannte aus dem Deutschclub Lia. Ich bin insgeheim froh, einmal aus der Stadt heraus zu kommen. Mit gut 8 Millionen Einwohnern und vielen, vielen Autos, hauptsächlich Bussen und Taxis, von denen kaum eines den deutschen TÜV bestehen
würde, ist die Luft dick und stinkt geradezu. Lima liegt außerdem ständig unter einer Wolkendecke. Jeder Deutsche würde denken, dass es innerhalb der nächsten paar Minuten anfangen muss zu regnen, das tut es aber nicht, maximal nieselt es ein wenig. Lima ist
eigentlich sogar eine Wüstenstadt. Die Wolkendecke drückt die Abgase zusätzlich nach unten, sie haben keine Chance sich zu verflüchtigen.
Kurz außerhalb Limas, entlang der Autobahn mit ihren unzähligen Schlaglöchern fällt zum ersten Mal ein Blick auf die Steinhügel, die Lima einschließen. Kein Baum, kein Strauch, nicht ein Grashalm ist zu sehen, nur Stein soweit das Auge reicht. Und darauf gebaut Häuser. Oder das, was entweder einmal ein Haus war, oder noch ein Haus werden soll, der Status ist unklar. Fafelas, Slums kann man das noch nicht wirklich nennen, Blechhütten sind es nicht, aber nah dran. Die Straßen, bzw. Wege durch die Siedlungen sind staubtrockene Lehmtrassen, ein Gewimmel von Menschen. Entlang der Autobahn, direkt an die Straße gebaut, auf der Lastwagen, Busse, Taxis, Geländewagen, Schrottkarren und hier und da ein richtig nobler Schlitten - Hummer, Porsche Cayenne, etc. - bei 100 km/h um jeden freien Meter kämpfen, egal ob in der eigenen Spur oder dazwischen oder am Rand oder wo auch immer, haben findige Anwohner Waschstraßen eröffnet. Man kann also einfach von der Autobahn abbiegen, in eine Art Holzscheune und sich dort das Auto reinigen lassen. Diese kleinen Magneten haben natürlich eine Unmenge weitere Geschäfte nach sich gezogen: Obst- und Gemüsehändler, Ramschverkäufer.
Ich möchte ein Bild von dem Treiben machen und ziehe meine Kamera aus dem Rucksack. Die erste Bewegung, die Lia macht, als sie mein Vorhaben entdeckt ist, den Knopf meiner Türe herunter zu drücken, gegen eventuelle Angriffe gefeit. Wir fahren aber zu schnell, ständig kommt mir ein LKW ins Bild oder vertrocknete Büsche, ich lasse meine Idee fallen und packe die Kamera wieder sorgfältig in den Rucksack. Klick, klack Kamera im Kopf. Die Fahrt dauert gut 1-1/2 Stunden entlang Siedlungen wie dieser.
Irgendwann erreichen wir Chosica. In den 20 Minuten bevor wir das Tagesziel erreichen, ist es deutlich wärmer geworden. Wir fahren Richtung Anden, d.h. wir gewinnen auch an Höhe, Chosica liegt auf 500 Metern, die Sonne ist hier einfach stärker als der Wolkendunst.
Ein buntes Treiben erwartet uns auch hier, aber die Atmosphäre ist im Allgemeinen freundlicher. Mehr
Lächeln, mehr neugierige anstelle von neidischen Blicken werden uns entgegen gebracht. Zu allererst müssen wir natürlich die Ortsheilige "Chosica" besuchen. Sie ist die "Siestra del Sol", die Schwester der Sonne. Jetzt, im Winter, wenn Lima unter der ständigen Wolkendecke liegt, kommen die Städter in Scharen hierher um etwas Wärme und Sonne zu genießen.
Wir schlendern über den Markt, durch schmale Gassen, in dem alles angeboten wird: Handys, ferngesteuerte Autos, Kochgeschirr und die passende Nahrung gleich mit dazu, Diverse Gemüse, Reis, Bohnen, unzählige Früchte und Fleisch, Kaninchen, Hamster, Hühnchen in engen Käfigen. Durch Chosica fließt ein Fluss. "Von diesem Fluss kriegt Lima sein Wassers" klärt uns John
auf. "Ob das für die ganze Stadt reicht?" frage ich mich, gleichzeitig mit dem schlechten Gewissen an die ausgiebige Dusche am Morgen.
Irgendwann stellt sich der Hunger ein. Wir kehren aber nicht in eines der vielen kleinen Restaurants am Rande der Hauptstraße zu "Papa y Pollo" - Pommes mit Hühnchen - ein, John hat einen anderen Plan. Er ignoriert mehrere Taxis, die zuviele Soles für die 10 Kilometer Weg verlangen. Wir gehen zum Busbahnhof, um auf ein günstigeres Sammeltaxi zu warten. Auch hier, auf dem von Schlaglöchern durchzogenen Lehmhof, auf dem sich Taxis, Busse und Verkaufsbuden aneinander schmiegen sind die Mimiken eher neugierig und freudlich als angsterregend. Ich spüre, dass die Menschen meinen Blick suchen, blaue Augen sind hier eben eher selten.
Das Sammeltaxi kommt erst in einer halben Stunde, John entscheidet, dass wir doch ein normales Taxi nehmen. Es geht den Berg hinauf. Steil ist die Straße nicht, aber mit dem Rad wäre sie schon eine Herausforderung. Das Taxi stinkt, das Fenster ist geöffnet, so dass auch noch die Abgase der vielen Busse, die den Berg heraufkeuchen als platze ihnen im nächsten Moment die Lunge, ins Wageninnere strömen. Dazu kommen die Abgase der Zweitaktmotoren der vielen Tuktuks, geschmückt mit Namen wie "Gomogomo" oder Preisungen diverser Heiliger, "Jesus Christus y sa Madre Maria", manchmal sogar ausgestattet mit aufwändigen Soundanlagen.
Das Erscheinungsbild der Siedlung wird schöner, dies ist eine bessere Wohngegend. Die vielen kaputten Autos am Straßenrand, darunter viele VW-Käfer, fallen uns schon nicht mehr auf. Rechts und links laufen wilde Hunde umher. Plötzlich biegen wir nach links ab in ein
großes Anwesen, umgeben von einer hohen Mauer. Wir sind baff erstaunt, eine völlig andere Welt erwartet uns. Ein Hotel, gut gepflegt, ein gemütlicher Garten mit intakten und fein gearbeiteten Holzmöbeln, ein gut gepflegter Rasen, eine schmucke Auffahrt zum Hotel. Wir steigen aus dem Taxi und sogleich kommt eine hübsche Angestellte auf uns zu, um uns zu einem
Tisch unserer Wahl zu begleiten. Und auch der Pool fehlt nicht. Ein paradiesisches Resort in Mitten der Armut.
Wir verbringen einen tollen Nachmittag bei leckerem Essen, eine gute, große Portion Papas, Rindfleisch, Reis, Salat, dazu das leckere Cuzquenia, das populärste peruanische Bier, lecker! Zwischendurch spielen wir Sapo - triff mit Metallmünzen ins Loch - ein
Geschicklichkeitsspiel. gun D. augepasst: Das ist das gleiche Spiel, was im Tartousse in der Ecke stand, Sapo heißt "Frosch!". Ich schlage mich übrigens sehr gut, bin nach einigen Durchläufen der Torschützenkönig.
Nach dem Essen relaxen wir am Pool, genießen die starke Sonne. Nur zwei Stunden reichen aus, um uns einen ersten kleinen Sonnenbrand zu verpassen. Wir müssen aufpassen, was uns diesbezüglich in Pisco erwartet. Schließlich ist der nette Nachmittag in Ruhe, und auch in Sicherheit, zu Ende. 100 Soles hat er für vier Leute gekostet, inklusive reichlich Essen, Trinken und nettem Ambiente, nicht zuviel! Wir treten heraus aus dem Resort auf die Straße um ein Taxi zurück nach Lima zu nehmen. Der Unterschied trifft uns hart: Streunende Hunde, die kaputte Straße und halbfertige Häuser erwarten uns. Im Taxi fallen uns die Augen zu, etwa eine Stunde später werde ich im Stau auf einer der Hauptstraßen Limas wach. Wir steigen aus und entschließen uns, zu Fuß durch die Wohnsiedlungen zum Hotel zu gehen.
Wir marschieren durch eine gute Wohngegend. Die Straßen sind in Ordnung, die Autos sauber. Die Grundstücke sind großzügig. Geschützt sind sie durch meterhohe Zäune, teilweise unter Strom oder zumindest auslaufend in scharfen Drahtspitzen. Es erscheint aber irgendwie normal, es geht keine besondere Bedrohung, weder von den Sicherheitsleuten, die die Straßen passieren, noch von den Wachhunden aus. Plötzlich, unmerklich, sind wir wieder in Miraflores. Jetzt wird mir klar, dass dies schon das Lebeviertel dieser Stadt ist. Nicht umsonst wird es in den Reiseführern empfohlen.
Wir beenden den tollen Tag in einem kleinen Kaffee bei einem weiteren Cuzquenia und einer langen Liste an Ausdrücken, Schimpfworten und allerlei nützlichem lateinamerikanischen Sprachgut: "cansado - müde, hambre - Hunger, aqui - hier, zapato - Schuhe, mierda - Scheiße, este es mio? - ist das Meins?, buenas noches - gute Nacht!"